Cabanes Bruno

Der Erste Weltkrieg – eine europäische Katastrophe,
Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 2013, geb., 480 S., über 500 Abb., Auswahl-Bibliogr., Zeittafel, Personen-und Sachregister, ISBN 978-3-534-25637-2, Preis: 49,95 €

Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges wie diese hat es auf dem deutschen Buchmarkt noch nicht gegeben“ (Gerd Krumeich, Vorwort). Die vorliegende Gesamtdarstellung in der jungen „Schule“ des international und interdisziplinär besetzten Forschungszentrums des „Historial de la Grande Guerre“ (Péronne, Somme) nimmt eine kulturhistorisch-zivilistische Perspektive ein, um die Ent-wicklung zwischen 1912 und 1928 (!) in ihrer „unauflöslichen Verwobenheit von Front und Hei-mat“ zwischen Vorkriegszeit, Kriegsgeschehen an den Fronten und Kriegsfolgen zu dokumentieren.

Die Herausgeber Bruno Cabanes (Yale University) und Anne Duménil (Paris/München/Amiens) und die weiteren Autoren legen ihrer Präsentation 68 Entwicklungsschritten über 51 Monate in
Bildern zugrunde, die aus den internationalen Beziehungen, dem Gang der politischen und militäri-schen Entscheidungen, der (Kriegs-) Wirtschaft und der Umorientierung nationaler Gesellschaften und Kulturen genommen sind – präsentiert wie in einer Ausstellung in hoher (museums-) pädagogi-scher und visueller Bildqualität.

Gezeigt wird, wie die Situation im „Pulverfass Balkan“ zwischen dem 18.10.1912 und dem 28.06. 1914 eskalierte (Bruno Cabanes), wie das Attentat auf den österreichischen Thronfolger die Mobil-machung und den Kriegsausbruch bestimmten (Anne Duménil), welche Rolle der Zusammenprall zwischen dem deutschen Kaiserreich und dem russischen Zarenreich bei Tannenberg 1914 (Vejas Gabriel Liulevecius) oder das „Wunder an der Marne“ (Anne Duménil) spielten und wie der Aufruf von 93 deutschen Intellektuellen vom 04.10.1914 für den Krieg europaweit zur geistigen Mobilma-chung beiträgt und zur Anklage Romain Rollands (1919) führte (Leonard V. Smith).

Anne Duménil beschreibt, wie im Spätherbst 1914 auf 280 km der „Bewegungskrieg“ in den „Stel-lungskrieg“ zwischen der Schweizer Grenze und Verdun, später Ypern umschlug und die Versuche, 1915/16 die Front wieder aufzubrechen: Materialschlachten, Giftgasangriffe, Kriegsfreiwillige als Kanonenfutter. Andere Beiträge sind dem Seekrieg, der „neue Fronten“ eröffnete (Dardanellen, U-Bootkrieg, Luftkrieg) gewidmet oder der Rolle der „Heimatfront“ (Ressourcenknappheit, Frauen in Männerberufen, Ersatzprodukte als Lebensmittel). Die Autoren klammern Reizthemen nicht aus: die Versenkung der Lusitania, den Völkermord an den Armeniern, die Rolle der Kriegspropaganda.
Exemplarisch werden Akte von Kriegsgreuel (Edith Cavell), Ausbeutung, Zwangsarbeit und Depor-tationen sowie Hintergründe des irischen Bürgerkriegs („Easter Rising“, 1916) behandelt.

Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ (Kriegstagebuch, 1916, Picardie) verdeutlicht, wie kriegstechni-sche Neuerungen wie die schweren Artilleriegeschütze in den Materialschlachten an der Somme, die Entwicklung der britischen Tanks (Mark I) mit „infernalischen“ Bedingungen für die Panzerbe-satzungen oder die Eisenbahngeschütze mit großer Reichweite das Schicksal von Hunderttausenden
als kriegsinvalide Überlebende oder Gefallene bestimmten, wie den „schwindelerregenden Massen an Feldpost“ zwischen Front und Heimat entnommen werden kann (Bruno Cabanes).

Der Band dokumentiert auch Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht: erwähnt sei der „kollektive Disziplinverstoß“ von sechs französischen Infanteristen am „Chemin des Dames“ (1917), nach dem
Militärstrafrecht von 1857/72 ein Akt der „Meuterei“, der den Krieg an sich in Frage stellt, gefolgt von Forderungen nach Waffenstillstand und Frieden, oder Streikaktionen in Betrieben, verbunden mit Arbeitszeit- und Lohnforderungen (Paris, 1917). Zwischen deutlicher Verurteilung des Krieges seit seinem Amtsantritt als Papst (1914) und der Friedensnote Benedikts XV. vom 01.08.1917 an die „kriegführenden Staatsoberhäupter“ liegen seine Initiativen für eine Kriegsgefangenenhilfe, um die Kriegsfolgen medizinisch und sozial zu mildern und die Erkenntnis, dass mit dem Kriegseintritt der USA allein die geistliche Autorität eine weitere Eskalation der Gewalt verhindern helfen könnte. In seinen „14 Punkten“ wird Präsident Woodrow Wilson am 08.01.1918 jenen „covenant“ (Pakt) vor-schlagen, um „nicht nur den Weltkrieg zu beenden, sondern den Krieg als solchen, und zwar ein für allemal“ (Leonard V. Smith) – ein „Völkerbund“ auf der Basis „universeller demokratischer Werte“.

Das Jahr 1918 sollte noch eine lange Leidensstrecke an den Fronten bringen, u.a. verursacht durch die „Michael-Offensive“ im Westen und drei Grippeepidemien, die sowohl über die Lazerette als auch über die Zivilbevölkerung als „Spanische Grippe“ (heute H5N1) hereinbrach. Nach den Revo-lutionen im russischen Zarenreich (1917) folgte der Zusammenbruch der österr.-ungarischen Monar chie, die Abdankung Kaiser Wilhelms II. im Zug der Novemberereignisse im Deutschen Reich und
die Richtungsentscheidung zwischen Räterepublik und parlamentarischer Demokratie, während die prägenden politischen Kräfte nach Bekanntwerden der Bedingungen einig waren in der Ablehnung der Klauseln der Pariser Vorortverträge – die Symbolik des Datums 28.06. und des Ortes (Spiegel-saal von Versailles) verstärkte die Wirkung der von Clemenceau „ausgeklügelten Inszenierung“.

Bruno Cabanes geht auf die Siegesparaden ein, die in Paris (14.07.), London (19.07.), Brüssel (22. 07.) und New York (10.09.1919) stattfanden – neben dem Jubel über heimkehrende Soldaten steht die Trauer über die Lücken, die in vier Kriegsjahren in die Familien gerissen wurden. Der Autor weist auf die Problematik hin, die sich aus der Entlassung der Soldaten nach dem Dienst an der Front ergaben: 5 Mill. Franzosen (1914: 3,6 Mill.), 6 Mill. Deutsche (1914: 4 Mill.) mussten ins Zivilleben wieder eingegliedert werden, denn die wirtschaftlich prekäre Lage in den kriegführenden Staaten bedeutete eine unsichere berufliche und private Zukunft als „Normalität“. Sabine Kienitz thematisiert die Versorgungslage von jenen, die „verstümmelt, blind, entstellt“ (1,5 Mill. Deutsche Kriegsinvaliden) und von 1,7 Mill. Kriegerwitwen und -waisen auf der Grundlage des vom Reichs-tag einstimmig (!) angenommenen Reichsversorgungsgesetzes vom 20.05.1920 ein: die Wunden, die der „moderne Krieg“ bei 8 Mill. auf Dauer behinderter Europäer hinterlassen lassen hat, werden zum Gradmesser für die junge Solidargemeinschaften. Ob in Sieger- oder Verliererstaaten: kriegsver sehrte Veteranen verkörpern als „lebende Kriegerdenkmäler“ (Joseph Roth) die „kollektive Erfahr-ung von Tod, Zerstörung und (persönlicher) Niederlage“.

Nachdem die Briten bereits seit 1917 ein „Imperial War Museum“ vorbereitet hatten, konnte König George V. und seine Gattin am 09.06.1920 diese Institution der Gedenkpolitik eröffnen. In Frank-reich initiierte Henri Leblanc 1914 eine Privatsammlung, stiftete sie 1917 dem Staat als „Kriegsbib-
liothek“, die 1925 im Château de Vincennes als Einrichtung der Volksbildung und zur Förderung der „gehobenen Geschichtswissenschaft“ eröffnet wurde. 1915/17 hat der Berliner Kaffeehändler Richard Franck seine „Kriegsbibliothek“ als Privatinitiative gegründet, die seit 1921 in Stuttgart als öffentliche „Bibliothek für Zeitgeschichte“ (des 20. Jhdts.) zugänglich ist. Sinn machen solche Grün dungen mit neuen Fragestellungen an die (Kriegs-) Geschichte, wenn es Historikern und Museums-pädagogen gelingt, „den Zivilisten den Krieg zu veranschaulichen“ (Bruno Cabanes). Dem dreifa-chen Auftrag „Dokumentation, Bildung und Gedenken“ widmet sich das 1992 eröffnete „Historial de la Grande Guerre“ (Péronne, Somme), Forschungszentrum und Museum in einer Einrichtung, die weniger dem Kult als der (Massen-) Erfahrung über nationale Trennwände hinweg dienen will mit dem Ziel einer „erschöpfend vergleichenden Gesamtgeschichte eines Krieges, dessen Nachwir-kungen weltweit zu spüren waren“. Als weiterer Facette der Gedenkpolitik geht der Band auch auf das Gedenken am „Grabmal des Unbekannten Soldaten“ (Paris/London 11./18.11.1920) ein, ein Ge denkort stellvertretend für alle Gefallenen und besonders die Vermissten, denen eine würdige Ruhe-stätte versagt blieb. Die Gedenkpraxis fand Nachahmer: in den USA, Italien, Portugal und Belgien (1921), in der CSSR und Jugoslawien (1922), in Rumänien (1923) und in Deutschland (Tannenberg, 1927). Es bleibt offen, inwieweit Formen des kollektiven Gedenkens an Kriegsopfer (Soldatenfried-höfe, Ewige Flamme, Beinhäuser, z.Bsp. Douaumont bei Verdun, 1932) einen Ersatz für private Trauer verkörpern können. Anne Duménil wendet sich in diesem Kontext auch dem Thema „Flucht und Vertreibung“ zu: Fridtjof Nansen war 1920 als Hochkommissar des Völkerbunds für die Rück-führung von Kriegsgefangenen in ihre Heimatländer beauftragt worden, denen der 1. Weltkrieg und der Bürgerkrieg in Sowjetrußland den Weg zurück abschnitt. Der nach ihm benannte „Nansen-Paß“ für Staaten lose als Dokument einer humanitären Diplomatie brachte seinem Initiator den Friedens-nobelpreis ein (1922). Historisch wird hieraus eine Legalisierung von (ethnisch oder religiös moti-vierten) Zwangsumsiedlungen, was einen Beigeschmack für Völkerbundsmaßnahmen zum Schutz von Flüchtlingen weltweit hat.

War die militärische Besetzung des Ruhrgebiets am 11.01.1923 durch französisches und belgisches Militär logisch in der Umsetzung der Bestimmungen des Versailler Vertrags, bedeutete diese Begrün dung für Deutschland einen Akt der Sieger-Willkür und eine Reaktion auf den deutsch-russischen „Rapallo-Vertrag“ (16.04.1922) und die Erklärung der deutschen Regierung gegenüber den Repara-tionsbehörden, die materiellen Bestimmungen von Versailles nicht erfüllen zu können. Frankreich ordnete darauf die Sicherung seiner Reparationsforderungen durch die „Besetzung produktiver Pfän der“ ein (Industrieanlagen an Rhein und Ruhr), ließ 47 000 Soldaten einmarschieren und riskierte den „Ruhrkampf“. Deutschland reagierte mit Generalstreik und passivem Widerstand ab13.01.1923, der auch zum Konflikt zwischen Krupp-Arbeitern in Essen und der Besatzungsmacht und Sabotage-akten mit aktivem Widerstand (Bsp. Leo Schlageter) führt. Folgen waren eine Hyperinflation zu La-sten der Bevölkerung, existenzgefährdende Produktionsausfälle und nackte Not, so dass Reichskanz ler und -außenminister Gustav Stresemann am 26.09.1923 den „Abwehrkampf“ einstellte. Innenpo-tisch kommt es zu gefährlichen Zuspitzungen durch Extremisten von rechts (NSDAP) und links (KPD), wirtschaftspolitisch rettete die „Rentenmark“ die Situation, und Reichskanzler Wilhelm Marx (Zentrum) gelingt es, die von Frankreich unterstützten Separatisten zurückzudrängen. Frank-
reichs militärisch und wirtschaftspolitisch motivierter Vorstoß scheitert: Abwertung des Franc, aus-senpolitisch isoliert geht der französische Außenminister Aristide Briand auf Gustav Stresemann zu und eröffnet einen Kurs der Annäherung (Vertrag von Locarno, 1925).

Bruno Cabanes zieht abschließend eine Bilanz für 1914 bis 1927/28: Unter Bezug auf die Erfahrun-gen eines französischen Kriegsveteranen, René de la Porte, stellt der Herausgeber fest, dass seine Landsleute „orientierungslos“ gewesen seien, dass es einer Zeitspanne von zehn Jahren bedurfte, bis die Trauer abklingen und „die Welt den Großen Krieg allmählich hinter sich lassen“ konnte. Es ist das Jahr 1928, in dem Erich Maria Remarque`s Anti-Kriegswerk „Im Westen nichts Neues“ veröf-fentlichte, und die Veteranen sich als „génération du feu“ oder - wie Vera Brittain als Femistin und Pazifistin - sich als Angehörige der „lost generation“ sah (Testament of Youth, 1933). Die Bilanz des Ersten Weltkriegs schlug in der Demographie Europas wie ein Schwert durch: 9-10 Mill. Gefallene, 3 Mill. Kriegerwitwen und 6 Mill. Kriegswaisen. In den Veteranenverbänden organisierten sich da-nach die ehemaligen Frontkämpfer und wurden auf kommunaler Ebene in sozialer Hinsicht und auch parteipolitisch im Interesse des Pazifismus aktiv: „Nie wieder Krieg!“ - der Erste Weltkrieg möge der „der(nier) des der(nier)s“ sein! Anknüpfend an Ernst Jüngers „Der Kampf als inneres Erlebnis“ (1922) sieht der Herausgeber mit George Mosse auf der deutschen Seite eine gegenläufig Bewegung, in deren Umfeld der „Mythos des Kriegserlebnisses“ zunehmend einen der Grundpfeiler der NS-Ideologie bildete.

Es ist ein breiter Fächer von ausländischen Historikern, die die beiden Herausgeber im vorliegenden Band zusammenführten. Ihr differenzierter Blick auf den Ersten Weltkrieg stellt eine „große und begrüßenswerte Bereicherung unserer eigenen Perspektiven“ dar (Gerd Krumeich). Es sind bemer-kenswerte Details, die für April bis Juli 1918 aufzeigen, dass ein „Kippen“ an den Fronten zu Gun-sten des deutschen Heeres im Bereich des Möglichen lag, andererseits auch erklären helfen, warum der Vorwurf an die OHL und die Politik, „von der Heimat im Stich gelassen worden zu sein“ den Nährboden für die „Dolchstoß-Legende“ bilden konnte. Auf der Grundlage der hier gebotenen Fak-ten und Bildbelege versteht der Leser die Zusammenhänge für 1912/14-1927/28 besser.

Willi Eisele
Wolfratshausen


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