14. Regensburger Kontaktstudium

14. Regensburger Kontaktstudium für Geschichts-/Sozialkundelehrer:
„Zeitgeschichte seit 1991. Strukturen, Entwicklungsprozesse, Akteure“

Rund 100 Geschichts-/Sozialkundelehrer vorwiegend oberpfälzischer und niederbayerischer Gymnasien, Berufs-/Fachober- und Realschulen folgten der Einladung des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst und des Instituts für Anglistik und Amerikanistik an der Universität Regensburg, die in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Geschichtslehrerverband, der Bezirksfachgruppe Geschichte/Sozialkunde Oberpfalz im Bayerischen Philologenverband und dem Regensburg European American Forum das zwölfte Regensburger Kontaktstudium ausrichteten.

In ihren Eröffnungsansprachen gingen Prof. Dr. Volker Depkat für die Universität Regensburg sowie Studiendirektor Albert Freier von der MB-Dienststelle für die Gymnasien in der Oberpfalz auf Bedeutung und wesentliche Anliegen dieser Fortbildungsveranstaltung zum Thema „Zeitgeschichte seit 1991. Strukturen, Entwicklungsprozesse, Akteure“ ein. Studiendirektor Theo Emmer vom Bayerischen Geschichtslehrerverband und dem Bayerischen Philologenverband freute sich über den schularten- und regierungsbezirksübergreifenden Teilnehmerkreis und dankte den Veranstaltern, vor allem dem wissenschaftlichen Leiter Prof. Dr. Volker Depkat (Professor für Amerikanistik an der Universität Regensburg und Historiker), und allen Referenten für ihr Engagement.

Prof. Dr. Mark Spoerer (Lehrstuhl für Wirtschaft- und Sozialgeschichte) referierte zum Thema „Entwicklungsprozesse und Grundprobleme der Weltwirtschaft seit 1991“. Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ (1992), demzufolge der Zerfall der Sowjetunion die endgültige Durchsetzung von Kapitalismus, Marktwirtschaft und Demokratie und das Ende aller globalen (System-)Konflikte bedeute, treffe so nicht zu. Eine liberalisierte Wirtschaft kann zunehmende Ungleichheit und somit neue Konflikte begünstigen. Bei der Entwicklung der Weltwirtschaft ist der Bereich von Technologie und Arbeit zentral: Fortschritte wurden vor allem auf den Gebieten Informations- und Kommunikationstechnologie, Umwelttechnologie sowie Gen- und Medizintechnik erzielt. Professor Spoerer betonte, dass neue Technologien nicht nur bestehende Arbeitsstellen gefährden, sondern immer auch neue schaffen. Die Globalisierung führt zu einer zunehmenden wirtschaftlichen und kulturellen Vernetzung der Weltwirtschaft und ermöglicht neuen Akteuren wie China größeren Einfluss. Hinzu kommen enorme globale Migrationsbewegungen. Diese Entwicklungen führen zu steigenden Belastungen für die Umwelt und wachsenden Anforderungen an den Wohlfahrtsstaat und erfordern eine Anpassung der Gesellschaft, um den Generationenvertrag nicht nachhaltig zu gefährden; auch eine Anhebung des Rentenalters sei - so der Referent - auf lange Sicht nicht zu vermeiden. Künftige Herausforderungen sieht Professor Spoerer im demographischen Wandel, in der Klimaveränderung sowie den Auswirkungen der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Vernetzung auf die Gesellschaft. Die soziale Kohärenz einzelner Staaten sei in Frage gestellt, wobei zu diskutieren sei, ob eine „Leitkultur“ heute überhaupt noch notwendig sei.

In seinem Beitrag „Krisenherd Ost- und Südosteuropa seit 1991“ veranschaulichte Prof. Dr. Ulf Brunnbauer (Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas) nach einer kurzen Erläuterung der aktuellen Forschungstrends die Situation in der im Fokus stehenden Region. Seit 1991 stehen einige Länder vor gewaltigen Herausforderung: Demokratisierung, Umstellung der Wirtschaft auf eine kapitalistische Marktwirtschaft, zudem wurden stellenweise ganz neue Staaten geschaffen. Professor Brunnbauer hinterfragte des Weiteren den Begriff „Pulverfass Balkan“. Konfliktpotential ergab sich hauptsächlich aus der geographischen Lage am Rande konkurrierender Mächte, die den Balkan zu einem Schauplatz geopolitischer Konkurrenz machten. Internationale Interventionen (Protektorate, UNO, NATO) sind folglich typisch. Ein besonderes Augenmerk warf der Referent auf Bosnien-Herzegowina, dessen Zweiteilung in die Republik Srpska und in die bosnisch-herzegowinische Föderation die Staatlichkeit dieses Landes hinterfragbar machen. Mannigfaltige Konflikte sorgen dafür, dass diese Region für Investitionen wenig attraktiv ist und der Balkan als das „Armenhaus Europas“ bezeichnet wird. Eine niedrige Geburtenrate, hohe Abwanderungszahlen und ein Zurückbleiben vor allem älterer Menschen stellen diese Länder vor zusätzliche Herausforderungen. Auch eine politische Kultur, die wenig geeignet zur Krisenbewältigung ist, und ein hohes Maß an Korruption sind weitere wichtige Faktoren im Krisendiskurs Ost- und Südosteuropas. Für viele Länder lautet die zentrale Krisenantwort: europäische Integration.

Prof. Dr. Stephan Bierlings (Professur für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen) Thema lautete „Krisenzeiten: Die größten außenpolitischen Herausforderungen für Europa und was Deutschland tun kann“ - den Vortrag dazu könnte man infolge der heutzutage extrem schnellen Entwicklungen täglich neu schreiben, was die Terroranschläge in Frankreich am folgenden Tag auf tragische Art und Weise unterstrichen haben. „Die Welt ist aus den Fugen geraten“ und der europäische Plan, einen Ring aus Freunden um sich zu versammeln, sei eher zu einem „ring of fire“ geraten. Alle derzeitigen Krisen hätten einen gemeinsame Nenner und kulminierten in der Flüchtlingskrise. Dabei sei Deutschland Dreh- und Angelpunkt geworden. Gründe hierfür sieht Professor Bierling darin, dass Deutschland sowohl ökonomisch als auch geographisch größer geworden ist und durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs, der den europäischen Einfluss begrenzte, auch östlicher. Zudem sei Europa nach dem Rückzug der USA auf sich allein gestellt, was derzeit mehr schlecht als recht gelänge. Daraufhin wurden die drei derzeit größten Konflikte für Europa erläutert. An dritter Stelle steht für Professor Bierling die Ukraine-Krise. Deutschland habe sich zunächst zurückgehalten und sei erst nach Abschuss eines Passagierflugzeugs zur treibenden Kraft in Europa geworden. Durch ihre rationale Haltung habe Angela Merkel versucht, den Westen zusammenzuhalten - Deutschland sei der einzige Staat, der das könne - und mit Hilfe politischer statt militärischer Entschlossenheit Europa nicht angreifbar zu machen. An die zweite Stelle setzte der Referent die Euro(pa)-Krise. Griechenland offenbart, dass die EU durchaus zerbrechen kann. Ohne EU sei Deutschland exponiert, andere Staaten könnten sich dagegen wenden. Der aktuell dringlichste Konflikt Europas ist laut Bierling die Flüchtlingskrise, die auch die Stabilität Deutschland bedrohe, das wiederum in der Pflicht sei, Lösungen zu finden, wobei es seiner Führungsposition nicht nur zögerlich nachkommen dürfe. Es zeige sich jedoch immer mehr, dass nicht alle Probleme mit Verhandlungen oder Geld gelöst werden können. Um auf alle Eventualitäten reagieren zu können, müsse die aktuell schlechte personelle, konzeptionelle und materielle Situation dringend verbessert werden.

Prof. Dr. Volker Depkat ging in seiner Präsentation „Die USA seit 1991“ auf die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik, auf die neu entstandenen Ungleichheiten, auf die Diversität, Pluralität und die sich im Schatten der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung formierende Kultur des „Rights Consciousness“ sowie auf die politische Polarisierung und die Kulturkämpfe in den USA ein. Waren die 90er-Jahre noch von einem Wachstumsschub bestimmt, so ging es mit der Wirtschaft mit dem NASDAQ-Crash 2001 bergab, um nach einer kurzen Erholungsphase 2008 in eine erneuten Finanzkrise zu münden. Professor Depkat stellte dabei heraus, dass der Kern des amerikanischen Wirtschaftssystems im „limited government“ liegt, d. h. in der Zurücknahme des Einflusses des Staates. Im Gegensatz dazu stand die „New Deal“-Politik Roosevelts, die wiederum eine „konservative Wende“ hervorrief, die durch die Kritik am New Deal und durch Schlagwörter wie Steuersenkungen, Monetarismus und „supply-side economics“ umrissen werden kann. Durch einen wirtschaftlichen Strukturwandel und das Entstehen einer postindustriellen Gesellschaft kam es zu neuen Ungleichheiten materieller und sozialer Natur. In einer „Winner-Take-All-Economy“ wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer, so dass man von einer neuen Sichtbarkeit von Armut in den USA sprechen kann. Ein weiterer Aspekt, auf den Depkat in seinem Vortrag einging, ist der beschleunigte Pluralisierungsprozess seit 1991. Die Liberalisierung der Einwanderung brachte einen ethnisch-kulturellen Strukturwandel mit sich, wobei zunehmend eine Enteuropäisierung und stattdessen eine Hispanisierung festgestellt werden kann. Zentral für die Pluralisierungsprozesse ist auch ein neu entstehendes Rechtsbewusstsein: das Recht, anders sein zu dürfen. Abschließend schilderte Professor Depkat die politische Polarisierung und die Kulturkämpfe. Diese eskalierten in den 90er-Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges, als der äußere Feind verschwunden war und man sich mit den Feinden im Inneren auseinanderzusetzen begann. Heutzutage scheint diese Polarisierung weitreichender denn je mit Themen wie Evolution, Ehe, Familie, Sexualität und vor allem auch Homosexualität. Untermauert wurde diese Aktualität mit der Tatsache, dass Papst Franziskus während seines Aufenthaltes in den USA Kim Davis, einer Standesbeamtin, die sich geweigert hatte, eine Heiratsurkunde für Homosexuelle auszustellen, für ihren Mut dankte.

Das Regensburger Jubiläumskontaktstudium für Geschichts- und Sozialkundelehrer unterstrich einmal mehr die Bedeutung der Vernetzung von Universität und Schule über das Angebot der Lehramtsstudiengänge hinaus. Die nächsten beiden Runden der erfolgreichen Reihe sind schon angedacht.

Theo Emmer


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