10. Regensburger Kontaktstudium

10. September 2011

90 Geschichts-/Sozialkundelehrer vorwiegend oberpfälzischer und niederbayerischer Gymnasien, Berufs-/ Fachober-, Real- und Mittelschulen folgten der Einladung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus und des Instituts für Anglistik und Amerikanistik an der Universität Regensburg, die in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Geschichtslehrerverband, der Bezirksfachgruppe Geschichte/Sozialkunde Oberpfalz im Bayerischen Philologenverband und dem Regensburg European American Forum (REAF) das zehnte Regensburger Kontaktstudium ausrichteten.

In ihren Eröffnungsansprachen gingen der Rektor der Universität Regensburg, Prof. Dr. Thomas Strothotte, REAF-Direktor Dr. Udo Hebel sowie der Ministerialbeauftragte für die Gymnasien in der Oberpfalz, Ltd. OStD Paul Lippert, auf die wesentlichen Anliegen dieser Fortbildungsveranstaltung zum Thema „Migration, Kulturtransfer, Nationenbildung“ ein. OStR Theo Emmer, der die Fortbildungsreihe mit iniitiert hat und seither mit organisiert, gab einen kurzen Überblick über die Geschichte des Kontaktstudiums und den besonderen Regensburger Weg: Veranstaltungen mit fachwissenschaftlichem historischen Schwerpunkt, abwechselnd mit kulturwissenschaftlichen mit geschichtlichen und sozialkundlichen Inhalten, Blick über den Tellerrand der Fächer hinaus durch Einbeziehung anderer Fachwissenschaften, schulartübergreifende Angebote. Er dankte den Veranstaltern, vor allem dem wissenschaftlichen Leiter Prof. Dr. Volker Depkat (Professor für Amerikanistik an der Universität Regensburg und Historiker).

Für den Eröffnungsvortrag „Migration als historisches Phänomen: Bedingungen, Formen, Folgen“ konnte der Osnabrücker Experte Prof. Dr. Jochen Oltmer gewonnen werden. Er wies darauf hin, dass Migrationsbewegungen nicht nur durch die Binnensituation im Herkunftsland, sondern auch durch Pull-Faktoren im Zielland und Kommunikation mit Emigranten beeinflusst werden. Die hohen Migrationsströme Ende des 19. Jahrhunderts beschleunigten die Europäisierung der Zielstaaten, ebbten aber nach dem Ersten Weltkrieg ab, da die Städte im Binnenraum wuchsen sowie neue Transportmöglichkeiten Pendeln ermöglichten, die weltwirtschaftliche Dynamik sich abschwächte und Staaten in Migrationsbewegungen eingriffen, z. B. durch Grenzkontrollen, Visumspolitik, Einwanderungskontingente und bilaterale Verträge.

Prof. Dr. Ulf Brunnbauer (Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas) machte in seinem Vortrag „Nationenbildungsprozesse auf dem Balkan“ deutlich, dass es ein Trugschluss sei, Nationen und Nationalstaaten als gegebene historische Tatsache zu sehen. Vielmehr sind sie Konstrukte der Moderne. Dies wurde am Beispiel des jungen Staates Makedoniens gezeigt. Da es sich viele kulturelle Merkmale mit den Nachbarländern Serbien, Bulgarien und Griechenland teilt, war man beim Nation Building gezwungen, mit Hilfe von nationalen Institutionen einzigartige makedonische Merkmale (z. B. Sprache, Nationalgeschichte) gezielt zu erfinden, die Konstruktion nationaler Identität ist zudem ein fortlaufender Prozess.

Der Vortrag „Migration, Kulturtransfer und nationale Identität in den USA der Gegenwart“ von Prof. Dr. Volker Depkat beschäftigte sich mit der Bedeutung der Immigration für die US-amerikanische Identität und die Selbstdefinition der USA als Einwanderungsland. Ausgehend von der doppelten Realität der Gesellschaft – einerseits als objektives Faktum, andererseits als Konstrukt ihrer Teilnehmer – zeichnete er zunächst die zentralen Phasen der Einwanderungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert nach: „old immigration“ und „new immigration“ sowie allmähliche Ablösung des euro-atlantischen Migrationssystems durch das pazifische und das hemisphärische nach 1945. Parallel gab es Debatten um die sich wandelnde amerikanische Identität, die sich in restriktiver Gesetzgebung wie dem National Origins Act von 1924 niederschlugen. Gleichzeitig wandelte sich die Selbstbeschreibung der USA allmählich vom „Schmelztiegel“ zur „Transnationalen Nation“ – weil dieses Selbstbild auch immer den tatsächlichen Erfahrungen mit kultureller Assimilation angepasst werden musste. Es herrscht ein Wettbewerb zwischen kultureller und verstärkt wertebasierter Assimilation von Einwanderern, der längst nicht beendet ist.

Den Workshop „Bilder als Quelle der Geschichtswissenschaft“ leitete M.A. Susanne Leikam (Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Amerikanistik). Im Gegensatz zur Kunstgeschichte behandeln die Bildwissenschaften, die heute an vielen britischen und amerikanischen Universitäten als eigener Forschungszweig etabliert sind, Bilder umfassender: Sie weiten den Begriff von Gemälden und Fotos aus auf Werbematerial, Filme, Metaphern, Erinnerungen u. v. m. (Differenzierung zwischen „picture“ - durch ein Medium materialisiert und fassbar - und „image“ - mental und immateriell!), kontextualisieren Bilder mehr und beschäftigen sich verstärkt mit Verbreitung und Rezeption des Mediums an sich. Die Bildwissenschaften beleuchten des Weiteren das Verhältnis von Ideologie, Macht, Politik und Wissen eines Bildes, z. B. mit den „unsichtbaren Sichtbarkeiten“ eines Bildes, das bestimmte Elemente bewusst auslässt. Bilder sind, auch wenn etwa ein Foto suggeriert, es sei ein Spiegel der Realität, nur scheinbar real: kulturelle Konstrukte und ideologisch angehaucht, automatisch auch oft wertbehaftet, weswegen das kritische Hinterfragen u. a. von Werbung in der heutigen Gesellschaft erlernt werden muss.

Unter dem Titel „Krankenakten als Quelle der Geschichtswissenschaft“ behandelte Dr. Heike Karge (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas) die Quellenart psychiatrische Akten und spürte dem Umgang der Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen nach. Nach einem kurzen Abriss über die Geschichte der Psychiatrie seit dem 18. Jahrhundert stellte die Referentin ihre Feldstudien in einem Sanatorium bei Zagreb vor: Patientenbögen aus dem 19. Jahrhundert ermöglichten Aussagen oder zumindest Annahmen über die einer Diagnose zugrunde liegenden medizinischen und gesellschaftlichen Überzeugungen. Ein weiterer Punkt war die geographische Verteilung von als psychisch krank diagnostizierten Menschen im Vergleich zur Verfügbarkeit von psychiatrischen Einrichtungen – ebenfalls am Beispiel der Balkanregion. Auch wenn die Zahl der Variablen kaum generelle Schlussfolgerungen zulässt, wurde zumindest eines klar: Diagnosen psychischer Krankheiten sind mit Vorsicht zu behandeln, denn sie sind nicht objektiv, sondern immer kulturell bedingt.

Prof. Dr. Volker Depkat stellte „Egodokumente als Quelle der Geschichtswissenschaft“ vor: Darunter werden alle diejenigen historischen Quellen gefasst, in denen sich ein historisches Individuum als „Ich“ selbst thematisiert und zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation erhebt. Dargestellt wurden terminologische und quellensystematische Grundprobleme von Selbstthematisierungen im Spannungsfeld von Ego-Dokumenten und Selbstzeugnissen, Akten und persönlichen Quellen. Der Schwerpunkt lag dann auf der quellengesättigten Erörterung einer kommunikationspragmatisch und narratologisch erweiterten Quellenkritik von Egodokumenten am Beispiel der Autobiographien von Arnold Brecht und Max Seydewitz. Dabei wurde deutlich, dass das Was der biographischen Selbstthematisierung stets in Abhängigkeit vom Wie, Wann und Warum zu analysieren ist. Das Regensburger Jubiläumskontaktstudium für Geschichts- und Sozialkundelehrer unterstrich einmal mehr die Bedeutung der Vernetzung von Universität und Schule über das Angebot der Lehramtsstudiengänge hinaus. Die nächsten beiden Runden sind schon in Planung.

Theo Emmer