19. Regensburger Kontaktstudium
19. Kontaktstudium Geschichte am 26. November 2020
Emotion, Fiktion und Satire – Beispiele für den geschichtskulturellen Umgang mit dem Thema „Nationalsozialismus“
Auch wenn das Kontaktstudium Geschichte bereits zum 19. Mal von der Universität Regensburg und dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, vertreten von der Dienststelle des Ministerialbeauftragten für die Gymnasien der Oberpfalz, in bewährter Kooperation mit BGLV und der Landesfachgruppe G/SK im bpv veranstaltet wurde, war es doch ein Novum. Bedingt durch die Corona-Pandemie wurde es erstmalig nicht als Präsenzveranstaltung, sondern als Zoom-Konferenz angeboten.
Der wissenschaftliche Leiter der diesmal wieder im Bereich der Geschichtsdidaktik verorteten Veranstaltung, Dr. Josef Memminger, begrüßte die etwa 35 zugeschalteten Kolleginnen und Kollegen und führte mit einer Definition von Geschichtskultur nach Jörn Rüsen als „praktischer Artikulation von Geschichtsbewusstsein“ in die Thematik ein.
Im ersten Vortrag stellte Dr. Heike Wolter von der Universität Regensburg das in Theresienstadt entstandene Kinderbuch Tommy und dessen Einsatzmöglichkeiten im Geschichtsunterricht vor. Das Bilderbuch wurde von Bedřich Fritta bzw. Fritz Taussig gezeichnet und mit Texten in tschechischer Sprache versehen. Er war 1941 nach Theresienstadt deportiert worden und verfasste das Buch dort zum dritten Geburtstag seines Sohnes Tomas, der erst im Jahr der Deportation der Familie geboren wurde und im Gegensatz zu seinen Eltern die NS-Zeit überlebte. Er sorgte für die Veröffentlichung des Buches, das ab den 1980er Jahren in einer wachsenden Anzahl von Sprachen erhältlich wurde.
Nach der Vorstellung der Entstehungsbedingungen führte Frau Dr. Wolter in sinnvolles methodisches Vorgehen bei der Verwendung des Buches im Unterricht ein und gab Hinweise auf audiovisuelle Quellen, bei denen das Buch nicht nur im tschechischen Original vorgelesen, sondern auch mit einem in Theresienstadt von Ilse Weber geschriebenen Wiegenlied hinterlegt ist, und bei der Landeszentrale für politische Bildung erhältlichen Materialien zum Buch.
Anschließend begründete sie die Verwendung dieses ja für ein Kleinkind geschriebenen Buches auch im Unterricht weiterführender Schulen im Sinne der Holocaust Education. Nicht nur dient es der Vermittlung von kognitivem Wissen, das ausnahmsweise nicht aus Täterquellen stammt, es erlaubt den Schüler*innen auch den Aufbau kognitiver Empathie, bei der nicht Mitleiden, sondern Mitfühlen das Ziel ist. Auch der Moral- und Werteerziehung kann das Buch, das für seinen ursprünglichen Empfänger zum lebenslangen Begleiter wurde, dienen.
Nach Ansicht der Referentin ist Tommy nicht nur für die Behandlung der Thematik mit älteren Schüler*innen, sondern auch mit Grundschulkindern oder Gymnasialanfängern geeignet, bei denen dann natürlich weniger die Kontextualisierung als die Befassung mit der Quelle selbst im Vordergrund stehen muss.
Anschließend referierte Dr. Matthias Häußler, ebenfalls von der Universität Regensburg, unter dem aus der TV-Serie Fawlty Towers entlehnten Titel „Don’t Mention the War“ über Kontinuität und Wandel im britischen Deutschland- und Europabild seit 1945. Er berichtet, dass der Zweite Weltkrieg in Großbritannien in der Gegenwartskultur (z. B. Fernsehserien, Bücher, Verwendung als Vergleichsmaterie in Zeitungsbeiträgen zu unterschiedlichsten Themen) sehr präsent sei. Besonders das Verhältnis zu Deutschland wird bis hin zur Diskussion über den Brexit von diesem Krieg bestimmt. Laut Dr. Häußler ist der britische Diskurs über die Zeit jedoch stets und vorrangig eine Betrachtung Großbritanniens selbst. Er gibt einen Überblick über die zeitliche Abfolge verschiedener Haltungen der Briten gegenüber Deutschland, begonnen bei der Rolle als Kriegsgegner und Besatzungsmacht in der Nachkriegszeit, als die Frage im Vordergrund stand, ob die NS-Jahre eher als „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte zu verstehen seien oder als Ausdruck des deutschen Nationalcharakters. In den 60er bis 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kommt es zur Annäherung nicht zuletzt über die gemeinsame EG- und NATO-Mitgliedschaft. In GB macht sich das Gefühl breit, dass Deutschland zwar den Krieg verloren, aber den Frieden gewonnen hätte, weil es im Gegensatz zum an Bedeutung verlierenden GB immer mehr Einfluss gewinnt. Diese Entwicklung wird von einem Teil der Briten bewundert, von einem anderen mit Befremdung zur Kenntnis genommen. Im Umbruch der 1990er Jahre, in der Großbritannien eine neue Identitätskrise durchläuft, während Deutschland nach der Wiedervereinigung erneut an Bedeutung gewinnt, treten NS-Bezüge im britischen Deutschlandbild wieder stärker in den Vordergrund und werden z. B. als Argument für die Ablehnung eines engeren Zusammenwachsens der EU angeführt, was, so die Aussage Nicholas Ridleys, des Ministers für Handel und Industrie im Kabinett Thatcher, denselben Effekt hätte, wie die britische Souveränität an Hitler auszuliefern.
In der Schlussdiskussion stellt Dr. Häußler klar, dass häufig allerdings Äußerungen, die in Deutschland als beleidigend empfunden werden, gar nicht so gemeint sind, da nach wie vor der britische Humor in Deutschland häufig auf Unverständnis stoße.
Dr. Josef Memminger, Leiter der Abteilung Geschichtsdidaktik an der Universität Regensburg, sprach anschließend anhand der Kinder von Izieu über die geschichtskulturelle Verarbeitung eines Fallbeispiels des Holocaust. Es geht um die Geschichte von 44 jüdischen Kindern, die in einem Kinderheim in Izieu zu ihrem Schutz vor Deportation untergebracht waren und im April 1944 von dort nach Auschwitz verschleppt und getötet wurden. Während das Schicksal der Kinder von Izieu in Frankreich sehr bekannt war und ist, wurde das Geschehen in Deutschland erst durch ein gleichnamiges Lied von Reinhard Mey aus dem Jahr 1994 bekannt. Dieses Lied ermöglicht den Umgang mit der Thematik, da es nicht nur die Schüler*innen direkt anspricht („sie war’n so wie ihr, so wie alle Kinder eben“), sondern auch die Kinder von Izieu so benennt, dass anhand der vorhandenen und im Unterricht einsetzbaren vielfältigen schriftlichen und bildlichen Quellen deren Leben nachvollzogen werden kann. Nach detaillierten Vorschlägen zum unterrichtlichen Umgang mit der Thematik betonte Dr. Memminger, dass es natürlich einerseits wichtig sei, das Schicksal der Kinder auf die Schüler*innen wirken zu lassen und somit Empathie zu erzeugen, andererseits aber auch die Reflexion nicht zu kurz kommen dürfe. Die Kinder von Izieu seien ideal dafür geeignet, gerade bei älteren Schüler*innen zur Kultivierung der Affekte beizutragen, die nötig ist, um sich mit dem Holocaust angemessen auseinandersetzen zu können. Die Schüler*innen müssen lernen, dass ein Gefühl der Überwältigung bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema durchaus normal ist. Diese Kultivierung der Affekte ist auch als Vorbereitung für Besuche in KZ-Gedenkstätten, wo die Jugendlichen sich der Betroffenheit nicht entziehen können, überaus hilfreich.
Der Abschlussvortrag von Prof. Dr. Christian Kuchler von der RWTH Aachen befasste sich mit dem Thema Lernen in Auschwitz – Diachrone Perspektiven auf schulischen Gedenkstättenexkursionen (1980-2019). Zunächst wies er darauf hin, dass Besuche in KZ-Gedenkstätten von 75% der deutschen Bevölkerung als wichtigen Bestandteil des Schulunterrichts betrachtet werden und in diversen Bundesländern, so ja auch in Bayern, im Lehrplan verankert sind, aber dennoch kaum Längsschnittuntersuchungen über diese Exkursionen existierten, weil kaum Berichte oder andere Dokumentationen vorlägen. Lediglich für Fahrten nach Auschwitz ist die Lage besser, weil häufig Schülerberichte für verschiedene Förderer der Fahrten verfasst werden mussten.
Während bis 1980 aus der DDR keine Reisen nach Auschwitz stattfanden, beginnt in den 1950er Jahren eine gewisse Tradition der Fahrten dorthin, die zunächst von einer sozialistischen Jugendorganisation, anschließend von christlichen Anbietern wir der Aktion Sühnezeichen durchgeführt wurden. Letztere bestanden hauptsächlich aus Arbeitseinsätzen bei der Erhaltung der Gedenkstätte.
In den 1980ern wurde im Rahmen von Polenrundfahrten von 70% der Schülergruppen auch Auschwitz besucht, wobei der Gedenkstättenbesuch eine untergeordnete Rolle spielte und nur wenige Stunden des Gesamtprogramms ausmachte, was von der staatlichen polnischen Reiseorganisation so bestimmt wurde.
Erst nach Fall des Eisernen Vorhangs wurde mit dem Deutsch-polnischen Jugendwerk eine Organisation zur Förderung des bilateralen Jugendkontakts gegründet, und die Stiftung Erinnern ermöglichen förderte umfangreiche Schulexkursionen zu den polnischen KZ-Gedenkstätten. Nun wurde also direkt Auschwitz bzw. Birkenau das Ziel der Fahrten, was eine Verschiebung der Wahrnehmung weg von den polnischen hin zu den jüdischen Opfern mit sich brachte.
Prof. Kuchler weist darauf hin, wie entscheidend die Begleitung der Fahrten durch Geschichtslehrkräfte ist, was derzeit noch in fast einem Drittel der Exkursionen nicht der Fall ist. Nur so könne sicher gestellt werden, dass der historische Ort mit Methoden der Geschichtswissenschaft analysiert wird. Dies erfordere nicht nur entsprechende Vorbereitung, sondern eben auch die Begleitung der nötigen Reflexion durch historische Fachlehrkräfte.
Dr. Anja Wiesner